Die verwunschene Straßenbahn

Ein Märchen von Jan Matthies
Straßenbahn

Es war einmal ein alter grimmiger Kioskbesitzer mit dem Namen Frank. Der lebte in der schönen Fächerstadt Karlsruhe. Eines Morgens, als er noch während der Dämmerung zu seinem Kiosk in der Fußgängerzone schlenderte, wurde Frank durch ein schreckliches Geräusch aus seinen Gedanken gerissen. Ein aggressives, ohrenbetäubendes Klingeln, unmittelbar hinter ihm, ließ ihn zusammenzucken und dann schleunigst zur Seite springen. Eine quietschgelbe Straßenbahn donnerte an ihm vorüber und die wenigen Passanten drehten verwundert Ihre Köpfe herum. Frank schäumte vor Wut: „Kann man nicht einen Morgen seine Ruhe haben, ohne dass die verdammte Straßenbahn einen über den Haufen fährt? Weinbrenner würde sich im Grabe rumdrehen, wenn er sehen würde, was aus seiner Stadt geworden ist!“, schimpfte er laut.

Während er noch schimpfte, näherte sich ihm eine wunderliche Gestalt und tippte Frank drei Mal auf die Schulter. „Wer bist du denn?“, fragte Frank verwundert. „Ich bin die gute Fee“, antwortete die Gestalt. „Ich habe beobachtet wie du jeden Morgen über deine Umwelt und die BürgerInnen dieser Stadt meckerst. Doch anstatt dich für deinen Unmut zu bestrafen, hast du drei Wünsche frei, um diese schöne Stadt noch besser zu machen.“ „Ich darf mir alles wünschen was ich will?“, fragte der Kioskbesitzer verdutzt. „Alles was du willst“, bestätigte ihm die gute Fee. „Dann wünsche ich mir diese scheußliche Straßenbahn fort.“, antwortete Frank ohne lange zu überlegen. „Nun gut“, sagte die gute Fee, „dein Wunsch ist mir Befehl. Morgen früh werden alle Straßenbahnen aus der Stadt verschwunden sein.“

Am nächsten Morgen schlenderte Frank zufrieden zu seinem Kiosk. Außer dem Vogelgezwitscher war nichts zu hören und so weit das Auge reichte war keine gelbe Straßenbahn in Sicht. Während er noch die Zeitungen in seinem Kiosk sortierte, bemerkte er ein immer lauter werdendes Gemurmel, das langsam zu einem lauten Geschimpfe anschwoll. An der Straßenbahnhaltestelle unmittelbar vor seinem Kiosk entbrannte ein großer Streit. Die Menschen hatten wie jeden Morgen auf die Bahn gewartet, die sie zur Arbeit brachte, doch kam diesmal keine. „Und für sowas zahlen wir Steuern“, empörte sich eine Bürgerin. Ein Bürger rief bereits seinen besten Kumpel an, der als einziger in der WG ein Auto besaß. Ein dritter geriet regelrecht in Panik. „Wie um alles in der Welt soll ich es jetzt pünktlich zu meinem Vorstellungsgespräch schaffen?“, stammelte er immer wieder und wusste sich nicht zu helfen, denn in seinem Freundeskreis besaß niemand ein Auto. Die Kinder riefen ihre Eltern an, um von diesen noch pünktlich zur Schule gebracht zu werden. Von überall her und überall hin strömten auf einmal Autos durch die Stadt. Ganze Kolonnen fuhren die verschiedenen Schulen und Hochschulen an. Alle Haltepunkte waren schnell besetzt, sodass überall Autoschlangen hupend die Straßen verstopften. Die Busse waren überfüllt und die enormen Staus brachten schon nach kürzester Zeit die gesamte Stadt zum Stillstand. Alles drängelte, alles schubste, alles versuchte zu überholen - alles ohne Erfolg. Autos bekamen Schrammen und Dellen, jedoch konnten keine Unfallprotokolle aufgenommen werden, da niemand mit Bestimmtheit sagen konnte, wer die Schuld daran trug. Kurzum, es herrschte das totale Chaos.

Der Bürgermeister schlug verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammen, als sich die Situation am Nachmittag immer noch nicht gebessert hatte und fragte sich und die wenigen anwesenden Gemeinderatsmitglieder, die es bis ins Rathaus zur Gemeinderatssitzung geschafft hatten, wie man denn das Klimaschutzkonzept 2030 unter diesen Umständen auch nur annähernd einhalten könne. Ratlosigkeit machte sich im Rat breit und man beriet verzweifelt, ohne jedoch zu einem geeigneten Ergebnis zu kommen. „Ob wir wohl die Steuern..?“, fing ein Mitglied vorsichtig an, doch da wurden bereits die ersten Gegenstimmen laut. „Nein! Auf gar keinen Fall! Da muss uns etwas anderes einfallen.“ „Wenn man das Chaos einfach nur wegwünschen könnte...“, dachte ein verzweifeltes Mitglied vorsichtig, ohne jedoch selbst an diese Möglichkeit zu glauben.

„Was für ein dummer Wunsch“, dachte sich da der Kioskbesitzer verärgert. In diesem Moment tauchte die gute Fee vor dem Kiosk auf. „Hallo Frank“, sagte sie fröhlich und das ganze Kioskdach wurde bei jedem Wort mit einen Schwung funkelndem Feenstaub bedeckt, „ warum schaust du denn so besorgt? Macht dir dein Wunsch denn keine Freude?“ „Freude - ha, du machst wohl Witze“, entgegnete Frank ganz genervt und bemerkte erst danach, wen er da eigentlich vor sich hatte. „Du! Du! Du!“, polterte Frank der guten Fee ganz verärgert entgegen. „Du hast mich ausgetrickst! Gar nichts ist besser geworden. Ganz im Gegenteil! Ich wünsche mir, dass die vielen Menschen zusammen mit der Straßenbahn verschwinden. Irgendwohin. Unter die Straßen. Es soll endlich ruhig und friedlich sein.“ „Ganz wie du wünschst“, entgegnete die Fee höflich, warf eine Hand voll Feenstaub in die Luft und war schon wieder verschwunden, bevor der verdutzte Frank noch etwas entgegnen konnte.

Am nächsten Morgen wurde es ruhig in den Straßen. Die ganze Stadt wirkte auf einmal unheimlich still. Fast wie ausgestorben. Kein Mensch war zu sehen und nur noch die alten Straßenbahnschienen erinnerten daran, dass das kleine Kiosk einmal nicht ganz alleine hier oben in der Fußgängerzone stand. „Wo sind denn all die Menschen auf einmal hin“, dachte sich Frank, der Kioskbesitzer, stirnrunzelnd und auf einmal verstand er: „ Mein zweiter Wunsch! Was bin ich doch für ein vollkommener Idiot!“ Verärgert und auch verzweifelt fing Frank an, sich ernsthaft Gedanken zu machen. Über sich selbst, über die Stadt, über die Menschen. Er dachte und dachte. Bis in die Nacht hinein dachte er und er hatte viel Zeit, um zu denken, denn er hatte an diesem Tag nicht eine einzige Zeitung verkaufen können. Niemand war da. Auch nach Feierabend lief niemand an seinem Kiosk vorbei. Nur ein Mitglied des Gemeinderats kam auf dem Rückweg von der Sitzung einmal kurz an seinen Stand, kaufte aber nichts, sondern erkundigte sich bei Frank, wo denn die nächste U-Bahnhaltestelle wäre. Eine unterirdische Straßenbahn also. Das war es! Frank verstand nun. „Alle Wetter. Ein Tunnel unter der Stadt.

Dass mir so etwas eingefallen ist! Aber jetzt habe ich keine Kundschaft mehr. Die Fußgängerzone ist so gespenstisch, dass niemand mehr einen Grund hat, dort Zeit zu verbringen“, so machte sich der Kioskbesitzer weiter Gedanken bis zum nächsten Morgen. Plötzlich erinnerte er sich daran, dass die Fee ihm am Nachmittag noch etwas zugerufen hatte, bevor sie wieder verschwand. Was war das gleich? Ja genau: „Ein Wunsch muss gut überlegt und von allen Seiten beleuchtet werden, bevor man ihn ausspricht. Du hast noch einen Wunsch frei. Überlege weise.“„Wenn ich mir eine Welt wünschen könnte, in der es hier oben schön wäre, in der die Menschen wieder hier wären ohne den ganzen Lärm und das Chaos“, überlegte Frank der Kioskbesitzer, „aber wie soll das gehen? Soll ich mir die Straßenbahn wieder hinauf wünschen?“ Als die Sonne aufging kam dem Kioskbesitzer endlich die zündende Idee: „Der Tunnel war eigentlich doch kein so dummer Einfall. Warum wünsche ich mir nicht einfach, dass sich anstatt der Schienen ein Park hier oben durch die Stadt schlängelt. Eine Stadt voller Leben. Das zusammen mit meinem zweiten Wunsch, dem Tunnel, wäre doch die perfekte Lösung für meine schöne Stadt!“ Vor Freude über seinen genialen Gedanken vollführte der Kioskbesitzer erst einmal einen kleinen Tanz um sein Kiosk herum. Als er wieder vor seinem Kiosk stand, bemerkte er die wunderliche Person, die bereits am Eingang auf ihn wartete. „Die gute Fee! Na Endlich!“, freute sich Frank der Kioskbesitzer. „Ich möchte jetzt meinen dritten Wunsch einlösen, gute Fee“, rief Frank überschwänglich. „Hast du dir das auch gut überlegt? Du weißt ja...“, sagte die Fee. „Ja“, sagte Frank, „Ich wünsche mir, dass die Stadt hier oben wunderschön ist. Dass hier wieder Menschen sind. Es soll viele Bänke und schöne Plätze mit Pflanzen und Verweilmöglichlichkeiten für Alle geben. Aber der Tunnel mit der Straßenbahn soll bleiben. So wäre meine schöne Stadt endlich perfekt.“ „Das ist eine hervorragende Idee.“, jubelte die gute Fee: „Endlich ein Wunsch nach meinem Geschmack!“ „Dann soll es so Geschehen.“, antwortete Frank. Die gute Fee warf wieder ihren Feenstaub in die Luft und war mit einem Male verschwunden.

Am nächsten Morgen ging Frank schon voller Vorfreude zur Arbeit. Als er in der Fußgängerzone ankam, traute er seinen Augen kaum. Von den Schienen und den alten Pflastersteinen war nichts mehr zu erkennen. Stattdessen prägten nun hohe Bäume, schöne Spazierwege und bunte Blumenwiesen das Stadtbild. Vogelarten, die er noch nie zuvor gesehen hatte, flogen durch die saubere Luft und sangen ihre Lieder. Kurz nachdem Frank sein Kiosk eröffnet hatte, strömten die Menschen aus allen U-Bahnstationen in die neue Innenstadt und erfüllten die Stadt mit neuem Leben. Frank hatte in seinem Leben noch nie so viele Zeitungen und Becher Kaffee wie an jenem Tag verkauft und strahlte über das ganze Gesicht.

Und wenn er nicht gestorben ist, dann strahlt er auch noch heute.