Karlsruhe, die Wüstenstadt

Eine Science-Fiction-Short-Story von Alexander Born
Wüstenstadt KA

Karlsruhe im Jahr 2222

Ein lauter werdendes donnerndes Grollen deutet auf die Landung eines Raumfahrzeugs hin. Weinbrenner blinzelt ins Licht der gleißenden Sonne, das ihn trotz der Sonnenbrille blendet, und reckt sich aus seiner Sandmulde empor. Die dunklen Locken und das gebräunte, schweißnasse Gesicht sind so sandig wie seine Umgebung.

Seit das Klima auf der Erde um das Jahr 2150 endgültig umkippte, kann man sich in den meisten Regionen nur noch kurzzeitig im Freien bewegen. Deutschland und das restliche Europa gleichen heute einer Wüstenlandschaft, weshalb Weinbrenner die typische Kleidung trägt, die ein Überleben in der Hitze erst möglich macht: einen wärme- und feuchtigkeitsregulierenden High-Tech-Anzug. Dass er einen solchen tragen darf, verrät seine Stellung. Zumindest seine ehemalige. Nur hochrangige Offiziere von Imperator Musk, dessen Vorfahre einst den Planeten Erde verließ, um vor den dramatischen Folgen des Klimawandels zu fliehen, können sich einen Überlebensanzug leisten. Als Weinbrenner vor fünf Jahren desertierte, nahm er neben einiger andere praktischen Dinge diesen Anzug mit. Doch auch jemand wie Weinbrenner verbringt nicht ohne Grund Zeit im Freien. Er erwartet jemanden: Die Schatzmeisterin des Imperators persönlich ist auf dem Weg nach Karlsruhe.

Genauer gesagt handelt es sich nur noch um einen Fleck Wüste, an der Stelle, an der sich Karlsruhe einst befand. Heute deutet nur noch die unzerstörbare Pyramide, die einst auf dem Karlsruher Marktplatz stand und von einem der Urahnen Weinbrenners errichtet wurde, auf diese ehemalige Stadt hin. Zwar hat Karlsruhe drei Weltkriege überstanden, aber gegen die dramatische Klimakatastrophe hatte die Stadt keine Chance. Die Bürger und Bürgerinnen der Stadt flohen oder kämpften um jeden Tropfen Wasser. Nur wenige Bewohner besiedeln noch die Region. Sie halten sich tagsüber in den ehemaligen U-Bahn-Schächten auf, um der glühenden Sonne zu entgehen. Tief unter der Erde gibt es noch Wasservorkommen, außerdem ist es den Karlsruhern gelungen, einige Pflanzen zu kultivieren, um ihr Überleben zu sichern. Auch gibt es bis zu drei Meter lange Riesenwürmer, die vor etwa 200 Jahren durch ein missglücktes Experiment von Karlsruher Studierenden entstanden, die für ein Gartenbauprojekt mit Hilfe der Würmer Humus herstellen wollten und durch radioaktiven Boden zu dieser Größe mutierten. Diese Würmer dienen neben den paar pflanzlichen Nahrungsmitteln ebenso als Ernährungsgrundlage. Seit der Entdeckung eines neuen Elements unterhalb von Karlsruhe, das Karlsruhium getauft wurde, können sich die verbliebenen Bürger und Bürgerinnen mit dessen Verkauf zudem finanziell über Wasser halten und so auch in fremden Welten einige Güter einkaufen. Dieser Handel bedeutet allerdings auch eine Besteuerung durch den Imperator. Zunehmend wächst deswegen der Groll auf die intergalaktische Regierung. „Wieso nehmen sie uns auch noch das letzte bisschen Kapital?“, denken sich die meisten Bewohner. Die Steuern haben sie schon lange nicht mehr gezahlt. Das erklärt nun auch den Besuch der Schatzmeisterin, die natürlich nicht allein anreist, sondern von gut einem duzend schwer bewaffneten Soldaten begleitet wird.

Das Raumschiff landet 50 Meter von der Pyramide entfernt und wirbelt Unmengen an Sand auf. Weinbrenner hält sich schützend die Arme vors Gesicht, ohne jedoch das Raumschiff aus dem Blick zu lassen. Seit seiner Flucht aus der Armee und seiner Rückkehr in seine alte Heimat ist er eine Art Bürgermeister für die verbliebenden Einwohner geworden. Er genießt diese Rolle, aber sehnt sich insgeheim manchmal zurück in die Führungsriege des Imperators. Als die Schatzmeisterin aussteigt und ihre langen blonden Haare im leichten Wind wehen, er ihr verschmitztes Lächeln sieht und sie sich elegant über den Sand zu ihm bewegt, weiß er wieder, was er so vermisst an seinem alten Leben.

„Wie ich sehe, lebst du immer noch in dieser Sandhölle“ begrüßt sie ihn. „Unkraut vergeht nicht“ antwortet Weinbrenner. „Wobei, wenn ich mich so umsehe, muss ich sagen, dass das wohl nicht stimmt. Ich bin wohl einfach etwas robuster als Unkraut“ ergänzt er. „Ja das warst du schon immer“ sagt die Schatzmeisterin nachdenklich. Sie tauschen intensive Blicke aus. Weinbrenner bemerkt, dass sie auch noch Gefühle für ihn hegt. Das zeigt ihm das Funkeln in ihren Augen. Sie hat nie verstanden, wieso er desertiert ist, dabei wollte er einfach nur ein friedliches Leben für sich, aber vor allem für seine Leute auf der Erde, die durch den Klimawandel schon genug ertragen mussten.

Die Soldaten postieren sich gerade, als eine Gruppe von ungefähr 30 Karlsruhern auftaucht und Beleidigungen ausstoßend mit Steinen auf die Truppen schmeißen. „Hey!“ ruft Weinbrenner, „lasst das doch sein, das bringt doch nichts, ich klär‘ das schon!“ „Danke“ sagt die Schatzmeisterin, als die Bewohner leise murrend aufhören, die Soldaten, die ihre Gewehre bereits gegen sie in Stellung gebracht haben, anzugreifen. „Nun können wir uns ja ums Geschäftliche kümmern“ schlägt die Schatzmeisterin in ruhigem Tonfall vor. „Ich wüsste nicht, was es hier zu klären gibt“ erwidert Weinbrenner ebenso ruhig, auch wenn er innerlich angespannt ist. „Meine Leute können geradeso überleben. Der Verkauf des Karlsuhiums reicht gerade so, um neues Saatgut zu besorgen. Wir können es uns nicht leisten, auch noch die Hälfte davon abzugeben. Ihr müsst das doch verstehen. Gibt es nicht genug andere Planeten, die ihr ausbeuten könnt?“ Man merkt Weinbrenner jetzt doch an, dass ihn dieses Thema aufregt. Dass er dabei mit seiner ehemaligen Geliebten spricht, macht es für ihn nicht einfacher. „Du weißt genau, dass wir hierbei keinen Spielraum haben. Lassen wir bei einer Welt locker, folgen weitere. Wir haben bereits zu lange zugesehen, wie ihr euren Anteil einfach nicht bezahlt. Nur aus Mitleid und wegen meiner Fürsprache hat der Imperator entschieden, euch nicht in Grund und Boden zu bomben. Aber noch länger kann ich ihn nicht hinhal....“ In diesem Augenblick wurde sie mitten im Satz durch ein Beben unterbrochen. Der Auslöser ist ein gigantischer Wüstenwurm. Der Wurm kommt in Höhe des ehemaligen Schlosses aus dem Sandboden und bewegt sich rasch auf die kleine Versammlung und das Raumschiff der Imperialen zu. Einen Wurm in einer solchen Größe hat Weinbrenner noch nie zuvor gesehen. Normalerweise werden die größten Exemplare nicht länger als drei bis vier Meter, doch dieser war an die 100 Meter lang und hatte einen Durchmesser von fast 20 Metern. Die Soldaten richten ihre Waffen auf das Monster und eröffnen das Feuer. Die Kugeln prallen jedoch einfach von der Haut ab, als wäre der Wurm gepanzert. Als sich die Soldaten die Wirkungslosigkeit ihrer Waffen eingestehen müssen, bricht eine leichte Panik unter ihnen aus. Der Wurm erreicht das gelandete Schiff und verspeist es in einem Stück. Er hält kurz inne, zerquetscht es mit seinem gigantischen Schlund und schluckt es schließlich herunter. Er macht sich nun wieder auf den Weg in Richtung der Menschen, die vor lauter Schreck wie paralysiert sind. Der Wurm wird nochmals langsamer, als er aufstoßen muss, weil der Treibstofftank in seinem Innern explodiert. Eine Stichflamme schießt aus dem Maul des Wurms. Davon unbeeindruckt setzt der Wurm seinen Weg aber fort.

Weinbrenner packt die Schatzmeisterin an der Hand, ruft seinen Leuten und den Soldaten zu, ihm zu folgen und rennt in Richtung eines alten U-Bahn-Abgangs, der als kleines Gebäude aus Lehmsteinen aus dem Sand herausragt. Vom einstigen Glanz der weißen Stationen mit den leuchtend gelben „U“s ist heute nichts mehr übrig. Einige Brände und der viele Sand haben die Stationen zu düsteren Orten werden lassen, die jedoch immer noch wirtlicher sind als die karge Wüstenumgebung. Die ersten Menschen stiegen hastig die abgetretenen Treppenstufen herab, um sich vor dem Wurm in Sicherheit zu bringen. Doch ob ihr Versteck wirklich Sicherheit vor einem solchen Riesenwurm bietet, bezweifelt Weinbrenner. Ihm ist klar, dass sie einen Weg finden müssen, diesen Wurm unschädlich zu machen. Nur wie? Während die Männer und Frauen an ihm vorbei in den Untergrund verschwinden, stehen er und die Schatzmeisterin noch am Ausgang und warten, bis die anderen in Deckung gegangen sind. „Los beeilt euch“ ruft er noch den Letzten hinterher. Die Soldaten des Imperators versammeln sich im Eingangsbereich, sodass sie den Wurm und ihre Schutzperson im Auge behalten können. Plötzlich hat Weinbrenner eine Idee. „Geh zu den anderen nach unten, sie werden euch schon nichts tun, auch wenn sie sich gerne über euch aufregen.“ fordert er die Schatzmeisterin auf. „Vertrau mir!“ „Okay, aber pass bloß auf dich auf, es ist zwar etwas her, aber ich weiß doch, was du immer für verrückte Flausen im Kopf hast. Das Ding sieht echt gefährlich aus!“ erwidert sie und begibt sich noch einmal zu ihm zurückblickend ebenfalls in den U-Bahn-Schacht, wo sie von ihren Soldaten schon erwartet wird. Weinbrenner, nun allein mit dem sich immer weiter nähernden Wurm, rennt los. Die alte Pyramide steht 100 Meter weit entfernt. Sie ist ihre letzte Rettung, denkt sich Weinbrenner. Der Wurm wittert ihn und wechselt seinen Kurs, weg vom U-Bahn-Eingang, zu dem er die Menschen bisher verfolgt hatte, hin zum laufenden Weinbrenner. Weinbrenner läuft so schnell, wie es seine Stiefel im Sand ihm ermöglichen. Immer wieder stürzt er fast, weil der Sand ihm unter den Füßen wegrutscht. Erleichtert, dass sein Plan, den Wurm von den anderen weg zu locken, zu gelingen scheint, blickt er sich ein letztes Mal zum Wurm um. Dieser ist nun nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Weinbrenner erreicht die Pyramide und versucht hinaufzuklettern. Er rutscht aber immer wieder auf dem glatten und durch den sandigen Wind fein polierten Material ab und landet immer wieder im Sand. Ihm fällt ein, dass sein Anzug auch über spezielle Handschuhe verfügt, die er aber nie trägt, weil sie sein Gefühl zu sehr einschränken. Während der Wurm immer näher kommt, findet er die Handschuhe, die mittels elektrostatischer Aufladung eine extreme Haftkraft erreichen, in seiner Hosentasche. Er zieht sie an und schaltet den Strom ein. Nun gelingt es ihm, auf die Pyramide zu steigen. Kurz stellt er sich hin, mit beiden Beinen links und rechts neben der Spitze, und schaut dem Wurm direkt in den Schlund. In dem Moment, in dem der Wurm zum Biss ansetzt, springt Weinbrenner vom Wurm weg von der Pyramide runter und rennt, ohne sich umzusehen so schnell er kann davon.

Der Riesenwurm verschlingt die Pyramide, ebenso wie zuvor das Raumschiff in einem Bissen. Als er seine Beute aber zerquetschen möchte, wird ihm sein Hunger zum Verhängnis. Die scharfkantige und nicht zerstörbare Pyramide bohrt sich mit allen fünf Ecken durch den Kopf des Wurms. Dieser lässt noch einen dröhnenden Schrei von sich, bevor es ihn in seine Einzelteile zerreißt. Weinbrenner, der nach wie vor um sein Leben läuft, bemerkt erst, dass sein Plan aufging, als er von einem Stück blutigen Gewebes im Nacken getroffen wird. Er dreht sich um und sieht den jetzt reglosen Wurm am Boden liegen. Die blutbefleckte Pyramide ragt aus dem Fleischhaufen hinaus, als sei nichts gewesen. Weinbrenner bleibt stehen und ringt nach Luft. So einen Sprint hatte er lange nicht mehr hingelegt und er ist ja auch nicht mehr der Jüngste. Er beeilt sich, zum U-Bahn-Schacht zurückzukehren. Dort angekommen wird er bereits durch eine jubelnde Menge erwartet. Soldaten und Einwohner liegen sich in den Armen. Die ersten Karlsruher machen sich bereits über den Kadaver her und schneiden das wertvolle Fleisch heraus. Ein Wurm solcher Größe dürfte die unterirdische Stadt eine Weile ernähren können. Die Schatzmeisterin tritt aus der Menge hervor und wendet sich Weinbrenner zu: „Wow, das war wirklich verrückt und mutig. Ich wusste, du hast wieder so etwas Gefährliches vor. Ich kann gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass das funktioniert hat!“ „Ja, das kommt mir selbst verrückt vor, aber das war die einzige Möglichkeit, wie wir den Wurm loswerden konnten.“ erwidert er. „Ja, das stimmt wohl. Damit hast du das Leben meiner Männer und meins gerettet! Ich weiß gar nicht wie ich meinen Dank ausdrücken kann.“ „Da wüsste ich was“, antwortet Weinbrenner.

„Ihr könntet uns von der imperialen Steuer befreien! Und wie ihr sicher nicht vergessen habt, ist euer Raumschiff zerstört. Wir geben euch ein neues, wenn ihr die Karlsruher Einwohner zukünftig in Ruhe hier leben lasst.“ „Das wird den Imperator zwar nicht freuen, aber du hast uns gerettet. Er wird sich schon darauf einlassen.“ „Dann machen wir es so!“ entgegnet Weinbrenner und winkt einen seiner Männer heran. Er trägt ihm auf, ein altes, aber funktionsfähiges Schiff her zu bringen, das groß genug ist, um die Schatzmeisterin und ihre Soldaten zurückzubringen. Als sie auf das Schiff warten, plaudern alle noch ein wenig, erleichtert, dass der Wurm getötet werden konnte und erfreut über den Deal mit der Schaftmeisterin. Weinbrenner und die Schatzmeisterin schwelgen in alten romantischen Erinnerungen. Die Soldaten steigen ein und bereiten den Start vor. Die Schatzmeisterin flüstert Weinbrenner zum Abschied etwas ins Ohr. Weinbrenner lässt sich das nicht zweimal sagen, ruft seinen Stellvertreter her, übergibt ihm die Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger der Stadt und steigt mit ins Raumschiff ein, wo er mit der Schatzmeisterin in einer Kabine verschwindet und die Rückkehr in sein altes Leben feiert.